Wie bunte Schuhkartons reihen sich Häuser mit hineingeschnittenen Fensterlöchern aneinander. Hinter manchen sitzen Alte oder Junge, die sich Zeit zum Staunen nehmen. Sie sehen hinaus auf Glanzpapierblumen und sandige Straßen, wo Musik zu Hause ist, zu  Kindern, die mit Regenbogensteinen auf den Straßen spielen.
   Salim sitzt vor seinem roten Kartonhaus. Der Bogen in der Rechten, fest und beweglich zugleich, streichelt liebevoll die Saiten der Violine. Augen geschlossen, die linke Wange zärtlich an schwarzes Holz geschmiegt, lässt er eine Melodie auf Reisen gehen. Sie verfängt sich in schwarzen Locken, die Esra gehören, der gerade den Kopf aus dem Fenster streckt, um dem Geruch von Kohlsuppe zu entgehen. Nur einen Moment kitzelt die Melodie seine Fantasie, bis der Wind sie weiterpustet. Salim beneidet Esra um den Kohlsuppennebel, der ihn umgibt. In ihm schwingt Liebe mit, denkt er. Auch wenn Esra es kaum bemerkt.
   Salims Kohlsuppenliebesgedanken schweben sacht weiter. Hinüber zu Leila, die bunte Wäsche in den Wind, vor Seidenschleierwolken hängt, als würde sie mit rot und gelbgeblümten Laken den Himmel tapezieren. Leila sieht kurz auf, lächelt Farid zu, der auf einem Stuhl im Garten sitzend Tabak in die Pfeife stopft.
   Kohlsuppenliebesgedanken auf geblümten Seidenschleierwolken schweben sanft um die Ecke, den Berg hinauf, wo Fahima lebt. So weit oben, dass ihre Hände zittern, wenn sie die Einkaufstaschen den steilen Weg hinauf getragen hat. Doch heute zittern ihre Hände nicht. Töne schleichen sich unter ihren neuen Rock, mit dem sie vorm Spiegel steht und zu tanzen beginnt. Die Arme leicht schwingend, den Oberkörper von Fliehkraft gebogen, dreht sie sich im Kreis. Immer schneller. Salim hat ihr einmal dabei zugesehen. Sie hat es nicht bemerkt. Doch heute tanzt sie mit seiner Melodie, die sich wild verfängt in geblähten Falten, die sie wie einen lebendigen Kreisel aussehen lassen. In dem kleinen Zimmer flirrt heiße Luft, die jetzt um die Mittagszeit über den bunten Schuhkartonhäusern liegt. Salim unten in der Stadt hat glitzernde Perlen auf der Stirn, die kitzeln. Und das Kitzeln ruft die Melodienträume zurück, bevor sie verstummen. Töne hüpfen um die Ecke. Kohlsuppenliebesträume, bunte Himmelslakenerinnerungen und eine, die er sich erst ansehen wird, wenn kühler Nachtwind durch das schiefe Fensterloch seines Hauses weht.
   Das letzte Vibrato verstummt. Salim hebt den Kopf, lässt die Hände sinken. Fast lautlos verschließt er die Melodienreise im sperrigen Geigenetui. Streicht darüber und lächelt.

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von Frauke Schmitz

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