Fritz Atlas

Gabriele Thießen

Ich habe vier Kometen entdeckt, Alma, zwei Sternenhaufen, sechs Galaxien und achtzehn Asteroiden. Nur eine Supernova war nicht dabei, dieses hellste Aufleuchten eines alten Sterns, bevor er erlischt. Keinmal in all den Jahren, aber das hier, Alma, das könnte so etwas sein. Eine Supernova der persönlichen Art, nicht am Firmament, sondern auf Papier.
   Einer vom Observatorium kam damit zu mir, Erstauflage, gebunden und sogar in Deutsch. Meldete sich zu meiner Sternführung an. Die wolle er sehen, sagte er, „versteht sich von selbst, als alter Kollege.“ Die Brille knapp zurechtgerückt, „mein lieber Fritz Atlas“, er drückte mir die Hand, „es scheint, du bist ein Buch geworden.“
   Hier, meint er, in diesem Roman, da sei ein Mann wie ich. Der für die Sterne brenne, nur jünger sei er, kein weißer Zwerg am Ende seiner Lebenszeit. Noch ist er nicht verglüht, aber vielleicht, Alma, vielleicht kollabiert er doch, sieh nur: Es ist ihr Name, da über dem Titel, Henriette Kaelenow. Henny, Alma, es ist Henny. Sie schreibt über mich, zwängt mich in einen ihrer Romane, macht mich heller leuchten, als ich kann. Nach all der Zeit hat sie mich nicht vergessen. Hier steht es, auf der ersten Seite, das Buch erschien erst letztes Jahr.
   Was für ein Ort wird sich darin finden, Alma? Eine Steinwüste vielleicht, von einem Buchdeckel zum anderen? Eine Steinwüste in den Bergen, wie hier, tausende Meter über Normalnull? Wo unter den Füßen trockener Schutt knirscht, wo es an manchen Stellen hundert Jahre nicht geregnet hat. Wo man im Tal des Mondes sitzen und doch den Mondaufgang betrachten kann, wo man das Blut in den Ohren rauschen hört. So still kann es werden, dass schon an ein Geräusch zu denken schmerzt, und so kalt, dass man bei Nacht erfriert.
   Oben am Vulkan nagt das ewige Eis, aber der See in seinem Krater ist frei. Darin leben die einsamsten Kreaturen der Erde. Versuchten sie hinaufzuschwimmen, ihr Gewässer zu verlassen, sie stürben ihren kleinen Tod. Sie ahnen nichts von den brodelnden Quellen, von den Geysiren zu ihren Füßen, aus denen die Welt ihren Atem spuckt. Wissen nicht, dass es im Canyon nach Sonnenaufgang kracht, als bräche der Planet entzwei. Und dass doch nur das Sandgestein in der Hitze seine Glieder reckt. Dass es kein Schnee ist, der auf den Hochebenen strahlt, sondern Seen aus Salz, in die tausend Flamingos ihre Zehen stecken.
   Aber muss man sich so einen Ort herbeidichten, Alma? Einen Ort, an dem man der Nacht auf die Schultern steigen und den Kopf zwischen die Sterne strecken kann? Wohl kaum. Weder muss man sie lesen, die Bücher, noch muss man sie schreiben, um dorthin zu gelangen. Es genügt, einfach nach Chile zu reisen, zu uns in die Anden, hier im großen Norden. Mitten hinein in die Atacamawüste, wo die Grasborsten zwischen Fels und Sand genauso ausgeblichen sind wie die Lamas, die an ihnen kauen.
   Auf diese Reise hat Henny sich nie gemacht. Sie ist nicht nach Chile gekommen. Was gekommen ist, war ihr Brief, 1976, am 4. Februar. Der Tag, an dem ich mein Gesicht in den Staub drückte, das einzige Mal weinte, der Tag, an dem ich sie begrub und mich entschied, mit dir, Alma, nach dem Leben zu suchen. Auf den Tod braucht man keine Antwort. Man kann ihn nur einmal sterben und dann ist er unendlich.
   Nicht eine Seite werde ich aufschlagen, nicht eine Zeile lesen. Ich male ein Kreuz hinter Hennys Namen, hier in ihrem Buch. Notiere dahinter den Tag vor nun fast siebenunddreißig Jahren, an dem sie mir meinen Ring zurückschickte und mich mit zwölf Worten aus ihrem Leben stieß. Was kann ich anderes tun, als die Seite herauszureißen. Als das Titelblatt mit Datum und Kreuz in einen Umschlag zu schieben und zu meiner Antwort zu machen.
   Jede Nacht bin ich bei dir draußen, Alma, obwohl meine Glieder knarren und meine Brust zerplatzt. Ich bin Astronom, kein Bergsteiger. Mein Körper ist abgetragen, mein Blut steht fast still. Die Höhe, Alma, der Kopf, der Husten, im Alter zwingen mich die Anden endlich in die Knie. Sie lassen mich nicht schlafen. Die Tage haben sich in mein Fleisch gegraben, ich huste wieder Blut. Du hattest Recht, mich zum Arzt zu schicken. Und Henny?, fragst du.
   Erschiene sie auf meiner Türschwelle, dann als eine Frau von mehr als sechzig Jahren. Aus dem Strohhut fiele ein grauer Zopf bis zum Bauch. Und ich, an meinem Schreibtisch, so aufrecht ich kann, im Rücken die Milchstraße, zur Seite die Sternbilder auf Hochglanzpapier, an der Decke das Sonnensystem.
   „Meine Güte, Fritz!“, würde sie rufen. „Was ist das hier?“
   „Die Atlas Space Agentur.“ Meine Stimme, Alma, bloß Hitze und Staub.
   „Ja, ich kann lesen“, würde Henny sagen. In ihrem Mundwinkel blitzte immer ein Zahn. „Und was ist mit dem Observatorium?“ Hennys Blick, Alma, du könntest sehen, wie er der Welt noch immer auf den Zehen stünde. Mein Hals, inzwischen voller Kies, „pensioniert“, brächte er heraus. Unter dem grauen Haar schimmerte Hennys junges Gesicht, als wäre das Alter bloß ein darübergeworfener Schleier.
   Der Brief, Alma, ich weiß noch jedes Wort. „Vielleicht“, schrieb Henny, „ist das die einzige Chance, damit wir uns nicht zugrunde richten.“ Nur das, und der Ring.
   Ganz gleich, wie weit er meine Zunge hinaufkröche, keine Silbe des Briefs würde ich über die Lippen lassen. Stattdessen das Kinn aufrichten wie einen Schild. Dass ich Sternführungen mache, das würde ich Henny sagen, „für Touristen, jetzt habe ich Zeit. Anders als du, Henny“, würde ich sagen, „fast jedes Jahr ein Buch. Das schreibt sich nicht in einer Nacht.“
   Ein Buch und noch eines, Alma, die verfluchten Romane, aber keine Zeile mehr für mich. Buchstaben über Buchstaben, bloß ein Haufen schwarzer Farbe.
   Henny zöge an ihrem Zopf, wie sie es früher tat. „Hast du sie gelesen, meine Bücher?“
   Fast würde ich lachen. „Lesen“, würde ich sagen, „wozu? Ihr Dichter lügt mir zu viel.“
   „Aber ihr Astronomen, ihr habt die Wahrheit?“
   Das letzte Mal, als Henny das sagte, griff ihre Hand schon nach der Klinke. Ich stürzte über meine gepackten Koffer, schneller, ich musste schneller sein, „Zucker!“, schrie ich. „Wir haben Zucker gefunden.“
   „Großartig“, sagte Henny, „Zucker im All.“ Ihre Finger schlossen sich um den Knauf. Ich sprang aus meinem Stuhl: „Aber das ist ein Baustein des Lebens!“, rief ich. „Zucker ist Leben!“
   „Das soll Leben sein? Ha!“ Die Tür knarrte. „Genauso gut kann ich im Gebirge eine Kelle Fugenmörtel auf den Boden klatschen und behaupten, das sei ein Haus. Zucker!“, höhnte Henny. „Gar nichts habt ihr.“
   Da, ein Schritt zurück, sie darf nicht gehen, Alma, hilf mir, „Alma!“, schrie ich. „Wir haben Alma!“
   „Ah, Alma.“ Ein Innehalten, immerhin. „Das Atacama Large Millimeter Array. Fritz Atlas und sein großer Traum.“
   „Das ist kein Traum, hörst du, Henny? Alma ist real. Sie ist das größte Radioteleskop der Welt!“
   „Gratuliere.“ Ihre Stimme abgekühlt und karg. Sie sieht es nicht, Alma, immer noch nicht. Ich sage ihr, dass wir ein Fenster aufgestoßen haben, weiter als irgendjemand sonst.
   „Ein Fenster also.“ Henny packt ihren Zopf. Sieh doch, Alma, das herrliche schwarze Haar. Ich nicke, bis mir schwindlig wird. Dass man ins All sehen kann, sage ich, durch die Zeit hindurch.
   Das Alter schmilzt von Hennys Gesicht. Meine Beine, Alma, ich muss mich setzen. Dass man nach Leben suchen kann, sage ich. „Nach Leben suchen, das hab ich getan. Gefunden habe ich die Möglichkeit.“
   „Und wo“, fragt Henny, bevor sie geht, „liegt da der Unterschied zu einem Buch?“
   Das würde sie fragen, aber fort ist sie, fort. Du kannst sie dir denken, Alma, nicht wahr? Auf den letzten Strahlen tanzt sie wie Staub durch den Raum. Das Sonnensystem hängt still von der Decke. Draußen taucht der Tag in den Sand. Sieh doch, Alma, wie er in Licht und Farben stirbt. Wieder ein Tag weniger.
   Der Husten, das ist das Schlimmste. Ich spüre ihn warm auf den Lippen. Mein Taschentuch fängt frisches Rot, es war gut, mich zum Arzt zu schicken. Nicht einmal mehr ein Jahr, das ist die Prognose. Und Henny?, flüsterst du.
   Zwei Dutzend Bücher hat Henny geschrieben. Ich frage mich, ob das noch zu schaffen ist. All die Buchstaben, Alma, die verfluchten Romane? Fangen wir an. Machen wir ihr Fenster auf. Steigen wir der Nacht auf die Schultern. Finden wir eine Möglichkeit.

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von Gabriele Thießen

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